Messung von Capabilities
Entwicklung und Anwendung eines Rahmenkonzepts zur Erfassung von Capabilities für das Erzielen eines körperlich aktiven Lebensstils
Der Capability Ansatz (nach A. Sen [1]) ist ein erfolgsversprechender Ansatz, um fördernde und hinderliche Faktoren körperlicher Aktivität besser zu verstehen und bei Interventionen berücksichtigen zu können. Die Evidenz bezüglich der konkreten Anwendbarkeit des Capability Ansatzes auf einen aktiven Lebensstil ist bislang begrenzt.
Eine ausführliche Sichtung der Literatur hat gezeigt, dass es bislang kein geeignetes Erhebungsinstrument für bewegungsbezogene Capabilities gibt, welches Handlungsmöglichkeiten für a) einen aktiven Lebensstil und b) für die verschiedenen Zielgruppen erfasst [2]. Einzig Ferrer et al. [3] versuchen Capabilities für gesunde Ernährung und körperliche Aktivität zu messen, während eine Vielzahl von anderen Fragebögen nur subjektiv das „Wohlbefinden“ von verschiedenen Zielgruppen, wie beispielsweise Senior:innen oder Personen mit psychischen Erkrankungen, abfragten.
Daher erarbeitete das Querschnittsprojekt EVA des Capital4Health Forschungsverbundes eine umfassende Skalierung verschiedener Dimensionen von Capabilities neu. Dies geschah a) mittels einer qualitativen Interviewstudie, die zentrale Capabilities für einen aktiven Lebensstil bei verschiedenen Zielgruppen (Kinder, junge Erwachsene, Senior:innen) explorierte und b) anhand einer ausführlichen Literaturrecherche, um relevante Indikatoren zur Messung von capabilities zu ermitteln, die in anderen Kontexten eingesetzt wurden. Auf Grundlage dieser Ergebnisse und unter Einbeziehung externer ExpertInnen wurden die identifizierten Domänen weiter bearbeitet, um standardisierte Items für den Bereich der körperlichen Aktivität zu erhalten. Anhand dieser Items wurde ein neues Instrument zur Messung von Capabilities für einen aktiven Lebensstil entwickelt, welches unter Anwendung des cognitive interviewing [7] validiert wurde.
Erfassung wahrgenommener Handlungsmöglichkeiten
durch qualitative Interviews
Um zu explorieren, welche Handlungsmöglichkeiten zur Führung eines aktiven Lebensstils von verschiedenen Zielgruppen als relevant erachtet werden, wurde eine explorative Interviewstudie mit drei unterschiedlichen Zielgruppen durchgeführt. Bevölkerungsgruppen, für die jeweils das Spektrum bewegungsbezogener Capabilities untersucht wurden waren a) ältere Menschen (≥65 Jahre) und Multiplikator:innen der Altenpflege (n=35), b) Eltern und Erzieher:innen von Kindergartenkindern zwischen 3-6 Jahren (n=15), c) Studierende und Auszubildende zwischen 18-25 Jahren (n=20).
Erstellung des Leitfadens
Zunächst wurde eine Basisversion des Leitfadens erstellt, der auf den Kategorien zur Messung von Capabilities des 65-Items-Fragebogen von Anand et al. [4] basiert. Ergänzend zu den allgemein gehaltenen Kategorien des Fragebogens wurde zusätzliche Literatur zu Einflussfaktoren von körperlicher Aktivität der jeweiligen Zielgruppen herangezogen, um spezifischere, auf Bewegung abzielende Fragen formulieren zu können.
Der Leitfaden wurde dann an die jeweilige Zielgruppe angepasst. So wurde beispielsweise eine verkürzte Version des Leitfadens bei den in Wohneinrichtungen lebenden Senioren verwendet, da hier kognitive Einschränkungen der Interviewpartner längere Interviews erschwerten.
Die Basisversion des eingesetzten Leitfadens kann hier heruntergeladen werden
Analyse
Die Interviews wurden aufgezeichnet, wörtlich transkribiert und anschließend inhaltsanalytisch ausgewertet [5]. Der Kodierungsprozess wurde mit der Computersoftware ATLAS.ti durchgeführt. Eine genaue Beschreibung der Methode und Analyse ist bei Sauter et al. beschrieben [6].
Übersicht Ergebnisse
Basierend auf den Ergebnissen der qualitativen Interviewstudie wurde eine Indikatorenliste mit 18 bewegungsbezogener Capabilities erstellt (siehe Tabelle 1). Die identifizierten Capabilities beziehen sich auf persönliche Eigenschaften und Lebenssituationen sowie auf soziale, materielle und politische Rahmenbedingungen und wurden vier Dimensionen zugeordnet: persönliche Ebene, soziale Umwelt, Wohnverhältnisse, organisatorische Umwelt.
In einem nächsten Schritt wurde die Indikatorenliste bei einem zweitätigen Workshop im Rahmen des Capital4Health-Forschungsverbundes mit ExpertInnen (n= 8) aus den Bereichen Gesundheitsförderung, Sportwissenschaften, Sportpädagogik und Sozialwissenschaften diskutiert. Alle TeilnehmerInnen wurden gebeten, die vorliegende Liste an bewegungsbezogenen capabilities zu kommentieren, hinsichtlich a) Nachvollziehbarkeit der abgeleiteten Capabilitiy-Indikatoren, b) Konsistenz mit dem Capability-Ansatz, c) Relevanz für die einzelnen Zielgruppen, d) Vollständigkeit der abgefragten Dimensionen.
Dimension | Capability | Senioren | Kinder | Junge Erwachsene |
Individuelle Ressourcen | Körperliche Gesundheit: Fähigkeit, bei guter körperlicher und geistiger Gesundheit zu sein, um die für das jeweilige Alter entsprechende körperliche und geistige Entwicklung erreichen zu können und entsprechende Bewegungsabläufe ausführen zu können. | x | x | x |
Bewusstsein der Notwendigkeit: Fähigkeit, die Relevanz regelmäßiger Bewegung zu begreifen, in Zusammenhang mit der eigenen gesundheitlichen Situation zu bringen und das eigene Bewegungsverhalten auf kritische Weise zu hinterfragen. Dazu zählt auch die Fähigkeit, auf Hilfeleistungen und Hilfsmittel zurückzugreifen, die das Bewegungsverhalten positiv beeinflussen. | x | x | ||
Bewältigung biographischer Brüche:Fähigkeit, schwierige Lebensphasen zu bewältigen und im Falle von Belastungen und Verlusten eine positive Lebenseinstellung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. | x | x | x | |
Zeit: Möglichkeit, Zeit für regelmäßige Bewegung im Alltag zu finden. | x | x | ||
Finanzielle Ressourcen: Möglichkeit, Geld für Bewegungskurse oder bewegungsförderndes Equipment ausgegeben zu können. | x | x | x | |
Vertrauen in das eigene Ich: Möglichkeit, frei von Beklommenheit und Unsicherheit bezogen auf die sportliche Ausdauer alleine oder in der Gruppe sportlich aktiv zu sein. | x | x | ||
Soziale Interaktion | Familiäre Unterstützung: Möglichkeit, von Familienmitgliedern unterstützt und motiviert zu werden, einen körperlich-aktiven Alltag zu führen. | x | x | |
Soziale Beziehungen: Möglichkeit, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten, um gemeinsam sportlich aktiv zu sein. | x | x | ||
Geschlechtliche Rollenbilder:Möglichkeit, unabhängig von in der Gesellschaft verankerter geschlechtlicher Rollenbilder gewünschte Bewegungen und Sportarten auszuführen. | x | x | ||
Sicherheit: Möglichkeit, frei von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes in der Öffentlichkeit sportlich aktiv zu sein. | x | |||
Wohnverhältnisse | Bedürfnisgerechte Ausgestaltung der Wohnumgebung: Möglichkeit, den Bewegungsdrang in verschiedenen räumlichen Dimensionen auszuleben und in einer bedürfnisgerecht ausgestalteten Wohnumgebung zu leben. Dazu zählt auch die Möglichkeit, Vertrautheit mit der Wohnumgebung herzustellen und durch die bedarfsgerechte Ausgestaltung der Wohnumwelt ein Gefühl der Sicherheit zu erzeugen. | x | x | |
Häusliches Umfeld und häusliche Aufgaben: Möglichkeit, seinen Alltag selbstbestimmt zu gestalten und tägliche Handlungen selbst auszuführen. Dazu zählt insbesondere die Führung des eigenen Haushaltes. | x | |||
Organisatorische Umwelt | Verfügbarkeit und Zugang zu Informationen: Möglichkeit, Beratungsstellen aufzusuchen oder Informationsportale aufzurufen. Dazu zählt auch die Fähigkeit, Informationen über Bewegungsempfehlungen und Bewegungsangebote anhand verschiedener Kanäle einzuholen, d.h. über Print- oder Onlinemedien. | x | x | |
Verfügbarkeit und Zugang zu Bewegungskursen: Möglichkeit, an Sport- und Bewegungsangeboten teilzunehmen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Wohnsituation. | x | x | x | |
Vertrauen in Systeme: Fähigkeit, Skepsis und Bedenken hinsichtlich organisierter Bewegungsangebote (z.B. finanzielle Übervorteilung) rational reflektieren und überwinden zu können. Dies wird erleichtert durch Schaffung transparenter Rahmenbedingungen durch die Anbieter. | x | |||
Inanspruchnahme sozialer Medien: Möglichkeit, unterschiedliche Kanäle sozialer Medien zu nutzen (z.B. YouTube, Facebook, Apps), um alleine oder in einer Gruppe sportlich aktiv zu sein. | x | |||
Ungebundenes Sporttreiben: Die Möglichkeit, unabhängig von festen Tagen und Uhrzeiten sportlich aktiv zu sein. | x | |||
Bewegtes Setting/Lebenswelt: Die Möglichkeit, am Ausbildungs- und Lernplatz regelmäßige Bewegungseinheiten in den Berufs- und Lernalltag zu integrieren, um einem sedentären Alltag entgegenzuwirken. | x | x | x |
Fragebogen zur Messung bewegungsbezogener Handlungsmöglichkeiten
Anschließend wurde anhand der finalen Indikatorenliste ein Fragebogen zur Messung bewegungsbezogener Handlungsmöglichkeiten für die Zielgruppe der Senior:innen entwickelt. Darüber hinaus wurde der Fragebogen mit Items bereits validierter Capability-Messinstrumente ergänzt. Um die Akzeptanz des Messinstruments bei der Zielgruppe der Senior:innen zu untersuchen, wurden kognitive Interviews (n=16) durchgeführt. In den Interviews kam die so genannte „think-aloud-Technik“ und „verbal probing“ zum Einsatz [7]. Bei der „think-aloud-Technik“ wird die befragte Person aufgefordert ihre Gedanken, während der Beantwortung, laut auszusprechen. Aus dieser offenen Befragungsart, können wertvolle Informationen über die Anwendbarkeit des zu testenden Instruments generiert werden.
Der finale Fragebogen enthält fünf Frageblöcke hinsichtlich wahrgenommene Handlungsmöglichkeiten bezogen auf (1) die Informationsgewinnung, (2) der Bewegung vor Ort, (3) der sozialen Unterstützung, (4) der körperlichen Aktivität im Alltag. Ergänzend hierzu werden in Block fünf Fragen zur tatsächlichen körperlichen Aktivität in einer gewöhnlichen Woche gestellt, angelehnt an die deutsche Version des Global Physical Activity Questionnaire der WHO [8] sowie Fragen zur Soziodemographie. Die deutsche und englische Version des Fragebogens können links oder hier heruntergeladen werden.
Monitoring von Capabilities in Bewegungsprojekten –
Die Capability-Checklist
Auf Basis der oben dargestellten Indikatorenliste wurde ebenfalls eine „capability- checklist“ konzipiert. Diese dient als Planungshilfe für Projektleiter:innen, die bei der Planung und Umsetzung von Bewegungsprojekten in der Präventions- und Gesundheitsförderung unterstützen kann, um unterschiedliche Aspekte von bewegungsbezogenen Handlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen, z.B. soziale Unterstützung, Sicherheit, Diskriminierung, bauliche Voraussetzungen etc. Das Instrument kann im Sinne einer Prozessevaluation ebenfalls als Monitoringinstrument eingesetzt werden, um zu dokumentieren, wie die Förderung einzelner capabilities im Projekt verläuft und welche Einflussfaktoren zu einer Veränderung der Handlungsmöglichkeiten beitragen. Die Capability-Checkliste kann hier heruntergeladen werden.
Literatur:
1. Sen A. Commodities and Capabilities. Amsterdam Elsevier Science Publishers; 1985.
2. Till M, Abu-Omar K, Ferschl S, Reimers AK, Gelius P. Measuring capabilities in health and physical activity promotion: a systematic review. BMC Public Health. 2021;21(353)
3. Ferrer, R. L., Cruz, I., Burge, S., Bayles, B., & Castilla, M. I. (2014). Measuring capability for healthy diet and physical activity. Ann Fam Med, 12(1), 46-56. doi:10.1370/afm.1580
4. Anand, P., Santos, C. and Smith, R. (2007) The measurement of capabilities. Open discussion paper in economics. Open University, 67, 49-85.
5. Mayring, P. (2002) Einführung in die qualitative Sozialforschung. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.
6. Sauter, A., Curbach, J., Rueter, J., Lindacher, V. and Loss, J. (2019) German senior citizens‘ capabilities for physical activity: a qualitative study. Health Promot Int, 34, 1117-1129. 10.1093/heapro/day077.
7. Willis, G. B. (2005) Cognitive interviewing in practice: think-aloud, verbal probing, and other techniques. In Willis, G. B. (ed), Cognitive interviewing, SAGE Publications, Thousand Oaks, CA. pp. 42-65.
8. World Health Organization. Global Physical Activity Questionnaire (GPAQ) (German version) Geneva: Prevention of Noncommunicable Diseases Department